WANN FÄNGT FREMDGEHEN AN?

Die Sache mit der Treue
Ich war immer fest davon überzeugt, dass ein Seitensprung die Beziehung zerstört. Denn dann ist ja jegliches Vertrauen weg. Wie soll es dann weitergehen? Wer
einmal lügt, dem glaubt man nicht und so weiter. So wurde ich erzogen und so begann ich meine ersten Liebschaften und ersten
Beziehungen. Mein erster „Freund“, Sören, betrog mich mit seiner Exfreundin, als ich mit meinen Eltern in den Skiurlaub fahren musste (ich hatte natürlich keinen Bock drauf, wer hat das schon mit 17?). Meine Welt brach zusammen. Wie konnte er so etwas nur tun??? In der Wunschvorstellung, dass dieser Blödmann der einzige Idiot sei, der die Welt zu so einem schlechten Ort machen würde, stellte ich ihn zur Rede. Er fiel aus allen Wolken und entschuldigte sich bla bla bla. Ich verließ ihn und brach ihm anschließend auch ein bisschen sein Herz: ich tanzte mit seinem besten Freund auf dem Dorffest.
Meinen zweiten „Freund“ – eine Bekanntschaft aus meinem ersten eigenen Urlaub (Zelten an der Talsperre 50 Kilometer von zuhause weg mit meinen Freundinnen) – betrog ich. Nie hätte ich gedacht, dass ich dazu fähig wäre. Aber nach einer Weile verlor ich einfach das Interesse an ihm. Was soll ich sagen. Asche auf mein Haupt, ich fühlte mich furchtbar, konnte es ihm nicht sagen und verließ ihn Hals über Kopf ohne Erklärung und auf nimmerwiedersehen.
Und – meine Damen und Herren – wir reden hier nur vom Knutschen! Wir haben fremdgeknutscht, an Sex war da nicht nicht zu denken!
Und dann kam der erste „richtige“ Freund, die erste feste Beziehung mit zusammen wohnen und so. Martin und ich waren ein super Team, es war die erste große
Liebe. Und wir hatten zuerst mal zwei tolle Jahre. Es lief einfach perfekt. Wir verstanden uns gut, wir waren wirklich ehrlich zu einander. Es gab nur uns. Bis… ja
bis ich für ein Praktikum nach München ziehen musste. Also, ich wollte ja. Und ich hätte natürlich nicht gedacht, dass das zu einer Katastrophe führen könnte. Die ersten Wochen als Fernbeziehung waren ok, wir telefonierten viel. Dann wurde es weniger. Nach drei Monaten hörte ich kaum noch etwas von ihm; das Praktikum neigte sich aber auch endlich dem Ende entgegen. Bald würden wir uns wiedersehen. Und da standen wir dann gegenüber nach der langen Zeit. Und er hatte plötzlich Tränen in den Augen. „Ich muss dir was sagen.“ Meine Welt zerfiel. Aber irgendwie wusste ich es schon. „Ich hab eine andere kennen gelernt. Aber alles schon wieder beendet.“ Mir wurde schlecht. „Es gab keinen Sex, nur gekuschelt und geknutscht.“
Nun gut, wenigstens keinen Sex. Aber ist das wirklich entscheidend? Vertrauensmissbrauch ist es allemal. Oder? Macht es tatsächlich einen großen
Unterschied, ob es zum Akt kam? Ich war und bin bis heute darüber im Unklaren. Er hat sich einer anderen zugewandt. Ich war nicht mehr seine Priorität – quasi die unausgesprochene Abmachung, wenn man ein Paar wird. Ich war einfach nicht verfügbar und eine andere durfte ihm nahekommen.

Letztlich ging die Geschichte aber gut aus. Martin und ich haben darüber geredet. Anders als bei den vorhergehenden Geschichten, denn da war es eben aus und vorbei. Diesmal sollte es „erwachsen“ sein. Und deswegen haben wir das dann aufgearbeitet, über unsere Wünsche und Bedürfnisse gesprochen. Warum es dazu kam? Was gefehlt hat. Und wie wir es in Zukunft besser machen können. Und es ging danach noch drei Jahre gut. Es war nicht das Ende. Sondern eine Begegnung neu auf Augenhöhe. Wenn ich ganz ehrlich bin, glaube ich, dass Fremdgehen nicht beim Knutschen oder erst mit Sex anfängt. Ich denke, dass Fremdgehen beim Gedanken anfängt. Nämlich dann, wenn ich mit meiner Aufmerksamkeit nicht mehr bei meinem Partner oder meiner Partnerin bin sondern sie jemandem anderen schenke. Sei es durch eine SMS, heimliche WhatsApp-Nachrichten, interessiertes Surfen auf einem Profil, Anmelden auf einem Dating-Portal. Denn dann bin ich gedanklich nicht mehr meiner Partnerschaft – sondern bei der potenziell nächsten. Oder?
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Erschienen auf rtl.de

 
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„Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“, „einmal ist keinmal“ – wenn es ums Thema Fremdgehen geht, scheiden sich die Geister. Die einen behaupten, das könne jedem mal passieren und wir wären schließlich Opfer der Natur. Andere schaffen es nicht, mit einer solchen Kränkung durch Partner oder Partnerin umzugehen, sind traumatisiert und können nie wieder Vertrauen fassen. Doch dabei muss ein Seitensprung nicht das Ende sein. Sondern vielleicht ein Neuanfang.

Warum gehen wir fremd?
Obwohl wir ganz rational wissen, dass Fremdgehen ziemlich egoistisch und mies ist, machen wir es trotzdem. Der Zauber der ersten Monate der Verliebtheit ist
vorbei, die rosarote Brille ist abgesetzt – und es zeigt sich nun mal der Alltag und die Realiät. Vielleicht leben wir da schon in einer gemeinsame Wohnung mit
unserem Partner / unserer Partnerin. Vielleicht ist es auch schon soweit, dass jegliche Tabus gefallen und Grenzen überschritten sind. Schnell pinkeln während er
sich die Zähne putzt? An den Fußnägeln rumspielen während sie mit einem Glas Wein auf dem Sofa neben ihm sitzt? Mhmhh… Was dem einen die Vertrautheit, ist dem anderen einfach irgendwann über. Der Reiz ist verflogen.


Liebe oder nicht?

Nun stellt sich die Frage: Ist es Liebe? Bleibe ich bewusst bei dem Menschen, den ich in und auswendig kenne? Genieße ich gerade das – diese Vertrautheit, diese Enge, Nähe, dieses Gefühl von „wir sind es“? Wenn Sie sich dafür entscheiden, dann kommt meist gar nicht die Gefahr auf, dass Sie sich rechts und links
umschauen. Und auch, wenn Sie sich in der Beziehung wertgeschätzt und geliebt fühlen, haben Sie sicher nicht das Bedürfnis, fremdzugehen.
Und was würde Sie doch dazu verleiten? Es gibt ein paar wichtige Punkte: Ihr Partner oder Ihre Partnerin hat nicht genug Zeit für Sie, Sie fühlen sich
vernachlässigt. Ebenso entscheidend: Die Fähigkeit des Partners oder der Partnerin, Konflikte anzusprechen und gemeinsam zu bearbeiten. Die Liste lässt
sich weiterführen: Zu wenig Hilfe im Haushalt, Bequemlichkeit, eingeschlafenes Sexleben.

Ist die Evolution schuld?


Wenn wir es ganz genau nehmen, dann könnten wir unsere Vorfahren und die Natur dafür verantwortlich machen. Wir sind natürlich nicht zu einer rein
monogamen Lebensweise geschaffen. Wie im Tierreich auch ist es natürlich evolutionär bedingt unsere Aufgabe, Nachkommen zu erzeugen und das mit
möglichst vielen verschiedenen Partnern – zwecks Genpool-Durchmischung. Aber dass wir deswegen komplett auf Treue verzichten und dort eine Rechtfertigung für unser flegelhaftes Verhalten finden, ist auch nicht richtig. Zuerst einmal gibt es tatsächlich auch monogam lebende Tier: Störche, Biber,
Wölfe. Sie suchen sich einen Partner, mit dem sie ihr ganzes leben lang zusammen sind (Ausnahmen bestätigen die Regel und wenn einer stirbt, müssen neue
Nachkommen mit neuen Partnern produziert werden – logisch!) Und am Ende geht es eben nicht nur um Abwechslung und den Reiz des Neuen sondern wir sind als menschliche Wesen natürlich auf der Suche nach Bindung, sie ist eins unserer Grundbedürfnisse. Ohne Bindung können wir nicht leben. Wir sind
abhängig von der Anerkennung und Wärme unserer Partner. Das heißt, womöglich sind wir monogame Wesen mit einem gewissen Drang zu gelegentlichen
Ausflüchten. Aber alle Erklärungsversuche sind bisher eben nur Versuche.

Was sagt die Statistik?


Obwohl die Zahlen nicht ganz eindeutig sind, lässt sich festhalten, dass laut statista.com zwischen 25 und 30 Prozent der Männer und Frauen fremdgehen.
Einige mit mehreren verschiedenen Personen, andere nur ein einziges Mal; weitere 20 Prozent waren zumindest schon mal in Versuchung.
Eine längerfristige Affäre zählt für die meisten Menschen als Fremdgehen, dicht gefolgt von einem One Night Stand und einem Besuch um Bordell.
Interessant: Auch das Anmelden auf einem Dating-Portal, Flirten und Pornos schauen tauchen in der Liste auf. Der interessanteste Punkt: Beim Sex an einen
anderen Denken ist ebenso für viele schon ein Treuebruch. Schlimm ist außerdem, wie die Männer und Frauen vom Seitensprung des Partners
/ der Partnerin erfahren haben: Die meisten finden es selbst heraus, was natürlich extrem schmerzhaft sein kann. Nur ein Drittel der Fremdgeher beichtet sein
Fehlverhalten.

Also was? Beichten oder nicht?

Und an diesem Punkt stellt sich ja die Frage, ob Sie dem Partner den Seitensprung erzählen sollten. Und daran scheiden sich die Geister. Es gibt Experten, die sagen: Nur, wenn ich dem Partner / der Partnerin gegenübertrete und ihm / ihr in die Augen schauen kann, ehrlich und aufrichtig beichte, ist ein Neuanfang überhaupt möglich. Andere sagen, dass ein einmaliger, wirklich unbedeutender One Night Stand ruhig verheimlicht werden kann. Denn wenn der Seitensprung WIRKLICH keine Bedeutung hat, warum den Partner unnötig aufregen, verwirren und verunsichern? Sollten Sie also von alleine echte Reue fühlen und selbst wissen, dass sie einen großen Fehler gemacht haben, könnten Sie durchaus auf ein Geständnis verzichten.
Die philosophische Frage, die Sie für sich beantworten sollten, wenn Sie das können: Ist Ehrlichkeit ein Zeichen der Liebe? Oder riskiere ich mit der Beichte,
dass meine Beziehung quasi wegen einer Nichtigkeit auseinanderbricht?

Schlechtes Gewissen

Wenn man dem Partner den Fehltritt nämlich nur beichtet, um das eigenes schlechtes Gewissen zu erleichtern, kann man sich das sparen. Dann lieber fragen: Warum habe ich das gemacht? Was hat mir gefehlt, wie konnte es so weit kommen? Wenn Sie ehrlich sind und die Tat beichten, dann setzt
natürlich ein Schock ein – Wut Trauer, Ärger, Enttäuschung – der Betrogene fühlt sich in die Ecke gedrängt. Aber genau aus diesen Gefühlen heraus wäre dann eben auch ein Neuanfang möglich. Denn auch als Betrogene/r haben Sie dann schließlich die Chance, die Beziehung einmal genauer zu betrachten. Es geht ja nicht nur um Sex. Sondern auch darum, was dem anderen gefehlt hat, woran es zu arbeiten gilt. Ein Seitensprung muss nicht das Ende der Liebe sein.

Wiederholungstäter

Anders sieht es aus, wenn man dem klassischen Wiederholungstäter auf den Leim geht. Leider weiß man das nie nach dem ersten „Mal“. Wir sind den Taten des Gegenübers letztlich ausgeliefert. Selbst alte Sprichwörter widersprechen sich da schließlich: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht…“ versus „Einmal ist kein Mal.“ Nun gut. Entscheiden Sie selbst. Aber wenn Fremdgehen quasi zur Gewohnheit wird, dann ist dem Betrogenen wohl dazu zu raten, schnell reiß aus zu nehmen. Denn so ein Verhalten verletzt natürlich und der Betrüger wird sich einfach nicht mehr ändern. Vielleicht kommt irgendwann in seinem / ihrem Leben der Punkt, wo er /sie das nicht mehr braucht, der wahren Liebe begegnet oder ein Wunder passiert. In dieser Beziehung wird sich das Verhalten der Betrügerin oder des Betrügers nicht mehr ändern; glauben Sie es einfach.

Können wir uns ändern?

Wenn Sie selbst zu den Betrügern gehören und es einfach nicht lassen können, den anderen zu hintergehen und zu verletzen, sollten Sie sich fragen, ob Sie
überhaupt der Mensch sind, der eine feste monogame Beziehung eingehen möchte oder sollte. Sie werden vermutlich immer wieder ein Gefühl der Unzufriedenheit in bestimmten Bereichen fühlen; werden immer Ausschau halten nach Alternativen; vielleicht nach dem schnellen abwechslungsreichen Sex, einem Kick oder einer Selbstbestätigung suchen. Wenn Sie sich wirklich ändern wollen, dann können Sie das. Die Entscheidung dafür müssen Sie aber bewusst treffen und klar dazu stehen. „Ich kann nicht wohnt in der Ich-will-nicht-Straße“, heißt es.

Alternative Beziehungsmodelle?

Und wenn Sie feststellen, dass Monogamie und Treue einfach nichts für Sie ist, ist das auch kein Problem. Es gibt mittlerweile genug alternative Beziehungsformen, die eine gewisse Freiheit lassen. Vielleicht suchen Sie sich einen Partner / eine Partnerin für eine offene Beziehung. Vielleicht sind Sie aber auch der Typ für eine Beziehung zu dritt. Oder Freundschaft plus – eine enge freundschaftliche Beziehung mit dem kleines Sahnehäubchen des gelegentlichen Verkehrs. Und niemand ist an etwas gebunden. Jede dieser Beziehungsformen hat am Ende seine Berechtigung, denn wir sind alle
nur Menschen mit Vorlieben, Gewohnheiten, Prägungen – und sind keineswegs fehlerfrei. Es ist am Ende nur Kommunikation und eine Begegnung auf Augenhöhe, die uns dazu bringen kann, unser Liebesleben zu führen, ohne einen anderen zu
verletzen.

Haben Sie auch ein Thema, mit dem sich Expertin Louisa Noack näher beschäftigen soll? Haben Sie eine Vorliebe, einen Fetisch, über den Sie mit ihr
sprechen wollen? Oder eine Liebes- oder Herzschmerzgeschichte, eine Anekdote, ein sexuelles Erlebnis, das Sie teilen möchten? Oder vielleicht nur eine Frage, die Sie Louisa stellen möchten? Dann melden Sie sich.

Erschienen auf rtl.de

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Louisa Noack
Sexualberaterin, Journalistin, Sprecherin
Mittelstr. 7
50672 Köln

Telefon: 0179 77 10 794
E-Mail: louisa@letstalkaboutsex.tv

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